Jeder Mensch hat in seinem Leben schon etwas Besonderes erlebt. Für mich beispielsweise war das das Zusammenleben mit einem behinderten Kind. Im Volksmund wird er als "behindert" bezeichnet – von uns „gesunden“ Menschen. Aber aus meiner Erfahrung kann ich sagen, dass Behinderte genauso Menschen sind wie wir, man muss ihnen nur mehr Aufmerksamkeit und Geduld entgegenbringen. Ich kam als Au Pair in eine Familie und habe dort ein halbes Jahr mitgelebt. Für mich war das ein Experiment, welches mir half, das Leben mit anderen Augen zu sehen.
Die Hintergrundgeschichte:
Das Kind, mit dem ich dieses halbe Jahr gelebt habe, war fünf Jahre alt und hatte schon eine Nierentransplantation hinter sich, einen zu kurzen Darm und hatte außerdem kein linkes Bein mehr. Trotzdem war er voller Lebenskraft. Seine einzige Niere hat er genau an dem Tag bekommen, an dem ich als Au Pair zu der Familie kam. Außer dieser körperlichen Behinderung, hatte dieses Kind, Jonas, auch keine Eltern mehr, und so lebte er bei seinem Adoptivvater.
Jonas‘ biologische Eltern haben ihn gleich nach seiner Geburt verlassen. Mit 2,5 Jahren wurde er von einem Ehepaar adoptiert, das keine leiblichen Kinder haben konnte – der jetzige Adoptivvater, bei dem ich beschäftigt war, und die Frau, die ihn Jahre später verließ. Ich glaube, für sie war es ein untragbares Leben, aber ich kann über sie nichts sagen, da ich sie nie getroffen habe.
Als er im Krankenhaus war, konnte er nicht ordentlich reden, essen, laufen etc. wie andere Kinder in seinem Alter. Er hat erst in seiner Adoptivfamilie gelernt, zu reden und mit einer Prothese zu laufen. Seine geistige Entwicklung war er auch viel schlechter als die anderer Kinder. Aber er hat auch viele Sachen ebenso wie andere Kinder getan. Ich hatte vor meinem Gastvater großen Respekt, nicht nur, weil er sich um Jonas fast alleine kümmerte, sondern auch, weil er nebenbei seine private Firma und Hilfsorganisation führte. Er nahm alle Schwierigkeiten mit erhobenem Haupt hin.
Mein Leben in der Familie:
Es war manchmal sehr stressig und oft wussten wir nicht, was wir machen sollten; beziehungsweise waren alle Situationen neu für mich. Aber wir haben gelernt, Geduld zu haben. Wir wollten beide, dass Jonas sich so fühlt wie andere Menschen, dass er seine Behinderung vergisst. Der Gastvater ist mit ihm in den Zirkus oder ins Theater gegangen, wir haben Jonas im Sommer in einer Wanne baden lassen, im Winter zusammen mit ihm Schnee geschaufelt und Schneemänner gebaut. Ich bin mit ihm oft auf verschiedene Spielplätze gegangen, damit er sich mehr mit anderen Kindern unterhalten kann, aber er hatte oft Angst vor anderen Kindern. Und für andere Kinder war er ein interessantes Kind, sie haben sich immer neben ihm versammelt und gefragt, was mit ihm los ist. Ich habe mich so gefühlt, als kämen wir von einem anderen Planeten.
Im Krankenhaus und im Kindergarten hatte Jonas auch Freunde mit Behinderung, aber keines der Kinder konnte reden oder ordentlich spielen. Wenn wir mit Jonas spazieren gingen, unterhielt er sich auf der Straße oder im Bus gern mit Erwachsenen. Er hat fremde Menschen über vieles ausgefragt oder über seine Behinderung gesprochen, über Krankheiten und sein Leben erzählt. Manche Leute haben auch geantwortet, manche versuchten sich von ihm zu distanzieren. Es war sehr unangenehm für mich, ich kann mir jetzt vorstellen, wie unangenehm das für Jonas und für andere Behinderte sein muss. Mein Vorschlag an andere Menschen ist, sich gegenüber Behinderten so zu verhalten, als wären sie gesund. Diese Menschen brauchen kein Mitleid wegen ihrer Behinderung - es ist unangenehm, wenn man dich bemitleidet. Sie wollen einfach wie andere Menschen leben.
Nach seiner Nierentransplantation sollte Jonas noch einiges mehr lernen: als erstes - selbständig auf die Toilette zu gehen. Erst hat er gelernt, zu sagen, dass er auf die Toilette gehen muss. Oft hat das aber nicht funktioniert, deswegen hat er immer Windeln getragen. Ich habe ihm oft erklärt, dass man auf die Toilette gehen muss. Erst haben wir ihn einach sehr oft darauf sitzen lassen, damit er es lernt. Danach hat er gelernt, es selbst zu sagen.
Als zweites hat Jonas gelernt, selbstständig zu essen und zu trinken. Bis zu diesem Zeitpunkt, also bevor ihm mit vier Jahren eine Niere gespendet wurde, hat er selbst nichts gegessen und die komplette Nahrung wurde durch eine Magensonde verabreicht. So hat er langsam gelernt, den Geschmack von verschiedenen Dingen kennen zu lernen. Er hat viele Sachen probiert, und hat für sich leckere Sachen ausgesucht. Zum Beispiel, wenn auf dem Tisch Griesbrei, Käse, Wurst, Schokolade, Bonbons gelegt hätten, hätte das normale Kind sich Schokolade ausgesucht. Aber Jonas wollte keine Schokolade, sondern Griesbrei oder Käse. Er hat immer wieder etwas Neues zum Kosten bekommen, und wir haben immer geschaut und aufgeschrieben, was ihm schmeckt. Es war sehr schwer, zu schauen, dass er etwas probiert oder isst, weil er das nie gelernt hatte. Ich habe ihm immer kleine Dosen gegeben und er hat 5-6 Mal am Tag gegessen. Manchmal, wenn ihm eine Art von Essen nicht gefallen hat oder er es nicht essen wollte, hat er sich übergeben. Das war aber selten.
Außerdem wurden ihm vier Mal am Tag bis zu 30 verschiedene Medikamente verabreicht, mehrere davon wurden ihm gegen ein Abstoßen der Niere verschrieben, und diese müssen Lebenslang eingenommen werden. Ich musste ihn immer daran erinnern, seine Medikamente pünktlich zu nehmen, denn es wäre lebensgefährlich gewesen, etwas zu vergessen oder später einzunehmen. Das hat mich anfangs sehr gestresst, aber langsam habe ich mich daran gewöhnt.
Jonas musste bis zu zwei Mal in der Woche (und das wird noch bis an sein Lebensende so sein) ins Krankenhaus gehen, da dort überprüft werden muss, ob die Niere richtig funktioniert. Oft ist er mit seinem Vater ins Krankenhaus gefahren, und manchmal wussten wir nicht, was mit ihm los war. Manchmal habe ich mit ihm Tage im Krankenhaus verbracht, und es war unmöglich, den ganzen Tag in diesen "vier Wänden" zu sitzen und sicherzugehen, dass er regelmäßig isst, auf die Toilette geht, schläft. Das Krankenhaus war wie ein Gefängnis.
So wie ich mich daran erinnere, hat Jonas nie über seine physischen Schmerzen gejammert, geschweige denn deswegen geweint. Er ist mehrmals am Tag gefallen und wieder aufgestanden, weiter gegangen, ohne zu weinen oder zu schreien. Daraus habe ich gelernt, dass jeder Mensch, wenn ihm das Leben den Boden unter den Füßen wegezieht, trotzdem aufstehen muss, um weiterzugehen, so wie es das Kind, das nur einem Fuß hat, getan hat.
Wenn er lief, musste ich immer dabei sein, fast jeden Schritt mit ihm zusammen machen. Langsam hat er aber auch gelernt, ohne mich zu laufen. Dieses Prozedere hat zwar einige Zeit gedauert, aber er hat somit gelernt, alleine zu gehen.
Mein Tagesablauf:
Ich bin zwischen 5 und 6 Uhr morgens aufgestanden, habe mich und meine Sachen fertig gemacht, dann vorbereitet, dann habe Jonas für den Kindergarten bereit gemacht: Baden, die Haut des Buben einkremen, damit sie nicht zu trocken wird, Prothese, Hemde und Hose anziehen, Frühstück bereiten, seine Medikamente und so weiter… Insgesamt hat die Vorbereitung zum Kindergarten oder zum Krankenhaus circa eineinhalb Stunden gedauert.
Danach ist Jonas mit seinem Vater in den Kindergarten oder ins Krankenhaus gefahren. Als die beiden weg waren, habe ich zu Hause aufgeräumt oder manchmal geputzt, und dann habe ich bis 11.30 oder 13.00 meine freie Zeit gehabt. Manchmal habe ich gekocht, aber das Kind hat immer im Kindergarten gegessen.
Dann ist er nach Hause gekommen und hat ein bisschen geschlafen. Nachmittags haben wir mit ihm etwas gespielt oder gelernt. Er musste viel lernen, damit er mit den anderen Kindern mithalten kann. Dafür sind zwei Mal in der Woche Frauen gekommen, die mit ihm gelernt haben.
Abends zwischen 19.00 und 20.00 ist Jonas schlafen gegangen. Samstag und sonntags habe ich normalerweise den ganzen Tag mit ihm verbracht; manchmal hatte ich aber auch am Vormittag oder Nachmittag frei.
Ich habe mit ihm viele Sachen gemacht und das wichtigste, das er gelernt hat, war, anderen Menschen zu helfen. Er versuchte immer, mir mit Dingen zu helfen: zu Hause zu putzen, seine Spielzeuge aufzuräumen, den Tisch zu decken und so weiter. Seine Lieblingstätigkeiten waren es, mit mir zu kochen oder Staub zu saugen. Sein Problem war, dass er sich nicht alleine beschäftigen, alleine spielen oder im Zimmer alleine sein konnte. Man musste immer bei ihm sein, mit ihm reden, spielen. Beim Spielen war er auch sehr unkonzentriert, und konnte nicht länger als drei Minuten alleine spielen. Seine Lieblingssache war, zu sehen, wie Erwachsene neben ihm mit seinen Autos spielen.
Da ihn seine Adoptivmutter verlassen hat, hatte Jonas große Angst, allein zu sein, auch im Zimmer, und, den Vater zu verlieren. Wenn der Vater weg war, war das eine Tragödie für ihn. Er hat nicht nur geweint und geschrien, er hatte einen andauernden Anfall, in dem er nicht verstand, was er sagt, was er tut. Dies ging stundenlang so und man konnte ihn nicht beruhigen. Er hatte große Angst, dass sein Vater von ihm weggeht. In diesen Stunden wollte ich mir nicht nur die Haare ausreißen, sondern ich war bereit, aus dem Fenster zu springen. Aber dann bin ich immer kurz aus dem Zimmer gegangen, oder habe das Fenster aufgemacht um mich zu beruhigen und irgendwelche Pläne zu ergänzen, die mir dabei helfen konnten, Jonas zu beruhigen. Spielen half selten, weil er nicht so wie andere Kinder spielen konnte. Ich habe verschiedene Varianten versucht, ihn zu beschäftigen, Bücher gelesen, Zeichentrickfilme geschaut, aber dies alles half nur für kurze Zeit, so für 3-4 Minuten. Dann habe ich ihn einfach in Ruhe gelassen, damit er ausweint, habe seine Spielzeuge genommen oder meine Bücher, und habe mich alleine beschäftigt, ohne ihm etwas zu sagen. Dann hat er sich beruhigt und wollte auch mit mir mein Buch anschauen oder Zeitung lesen, oder sonstiges.
Wenn ich so getan habe, als wäre ich zu beschäftigt für ihn und könne nicht alles so machen, wie er es will, würde sein Weinen nicht hören, hat er sich beruhigt und ist zu mir gekommen, damit ich mit ihm weiterspiele. Es hat aber immer viel Zeit und Energie gebraucht, um ihn zu beruhigen. Jonas hat den Tag über meine Energie ausgesaugt, so, dass ich abends nicht mehr denken konnte und wollte, und jeden Tag war ich gestresst und depressiv, weil sich meine ganzen Emotionen in mir ansammelten. Aber ich habe immer den Gastvater gesehen, und wusste, dass es ihm noch schlechter ging, und ich habe damit gelebt, ohne meine Gefühle zu zeigen und darüber zu reden. Ich konnte zwar mit Jonas weiterleben, aber dafür brauchte ich manchmal ein "Fenster" oder eine „Gefühls-Abwechslung“.
Es gab aber auch viele schöne Momente mit diesem Kind. Zum Beispiel, war es schön, zu sehen, wie er etwas Neues lernt oder macht, das er zuvor noch nie gemacht hatte, und was für andere Kinder ganz normal ist: Zum Beispiel, in der Badewanne zu baden, zu schwimmen, auf dem Spielplatz zu spielen, zu schaukeln, zu rutschen und so weiter. Es war sehr schön, zu sehen, wie er sich daran erfreut. So war mein Leben mit diesem Kind eine große Erfahrung für mich, weil ich dadurch lernen konnte, Geduld zu haben, mit verschiedenen Situationen umzugehen, immer daran zu denken, dass ich gesund bin und alles im Leben schaffen kann, wenn ich es will. Und die Hauptsache ist, dass ich gelernt habe, alle Menschen, egal, wie sie aussehen, was sie machen, wie sie leben, woher sie kommen, welchen gesundheitlichen Zustand sie haben, gleich zu sehen, aufmerksamer zu sein und immer mitzudenken.
Elisabeth Kerry
Titelbild:
Sowohl der Name des Kindes als auch der der Autorin wurde redaktionell verändert. Die Autorin kommt ursprünglich aus Russland und lebte bei einer Familie in Österreich.